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Titel
Die Macht der Seuche. Wie die grosse Pest die Welt veränderte 1347–1353


Autor(en)
Reinhardt, Volker
Erschienen
München 2021: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
256 S.
von
Klaus Bergdolt

Die Covid-Pandemie hatte eine Fülle geisteswissenschaftlicher bzw. historischer Publikationen zur Folge. Anerkannte Monografien zur Pest- und Seuchengeschichte rückten erstaunlicherweise in den Hintergrund. Schnelle Stellungnahmen waren gefragt. Meist wurde versucht, zur Gegenwart Brücken zu schlagen und Lehren für die heutige «Pandemie-Gesellschaft» abzuleiten.

Der in Fribourg lehrende Renaissance-Historiker Volker Reinhardt hat in diesem Zusammenhang ein Werk vorgelegt, das in den meisten Feuilletons hoch gelobt wurde. Wahrscheinlich handelt es sich um das 2021 meistverkaufte deutschsprachige Buch zur Pest von 1348. Zahlreiche Interviews in bekannten Zeitungen, darunter im Spiegel und grosszügige Anzeigen durch den Verlag in überregionalen Zeitungen dürften hierzu beigetragen haben. Das Buch schien dem Laien nicht nur eine umfassende Darstellung des Seuchenalltags, sondern auch der Lebenswelt des 14. Jahrhunderts zu versprechen. Der Titel «Die Macht der Seuche» suggerierte durchaus Bezüge zu heute. Umso mehr überraschen einige erstaunliche Fehler. Auf Seite 110 liest man zur Pest in Venedig: «Die erste Reaktion der regierenden nobili im Venedig des Pestjahres 1348 war ein Gemeinreflex aller Politik bis heute. Sie riefen Ende März eine Kommission ins Leben, die sich dem plötzlich aufgetretenen Seuchenproblem widmen sollte. Die in dieses neue Gremium gewählten Magistrate taten das, was die Mitglieder solcher Ausschüsse zu allen Zeiten tun: Sie stiessen bedrucktes Papier in grosser Zahl und Auflage aus.»

Wurde die zur Mitte des 15. Jahrhunderts durch Gutenberg erfundene Kunst des Buchdrucks in Venedig also schon im 14. Jahrhundert praktiziert? Wo blieb hier das kritische Lektorat? Auch sonst fallen gravierende Faktenfehler auf. Die 40 Tage dauernde Quarantäne wurde so keineswegs erstmals 1423 in Venedig umgesetzt (vgl. S. 163), sondern bereits 1383 in Marseille. Das 1423 in der Lagune eingerichtete «Lazareto Vechio» diente nicht der Quarantäne, also der zeitlich begrenzten Isolierung von Personen, die mit Infizierten Kontakt hatten, sondern der Isolierung manifest Erkrankter. Eine auf Dauer etablierte Quarantäne-Station ist in Venedig erst 1468 – lange nach Ragusa, Marseille oder Reggio – auf dem sogenannten «Lazareto Novo» belegt.

Reinhardt ist darum bemüht, altbekannte Quellen zu 1348 neu zu interpretieren. Er vertritt so die Meinung, es habe in den Jahren vor der Pest in den italienischen Stadtgesellschaften «kein Bedrohungsgefühl» gegeben. Die vielfach dokumentierten Unwetter und Missernten hätten schlicht zum mittelalterlichen Alltag gehört (S. 53). Ob Tausende von Opfern, die in den Dreissigerjahren allein in Florenz zu beklagen waren, wirklich als alltägliche Plagen wahrgenommen wurden, erscheint freilich mehr als zweifelhaft. Nicht umsonst ist das düstere Motiv des «Triumphs des Todes» in der bildenden Kunst schon vor 1348 nachweisbar. Auch die Fama der sich aus Asien nahenden Seuche beunruhigte, ebenso seit den Dreissigerjahren das Phänomen der Geissler. Das Erdbeben vom Januar 1347 – der Schwerpunkt war in Friaul, doch zeigten sich Auswirkungen weit nach Ober- und Mittelitalien hinein – verschärfte die Ängste.

Entgegen der These Egon Friedells bewirkte die Pest von 1348 nach Reinhardt keinen nennenswerten kulturhistorischen Umbruch. Kein Wort liest man von dem neuen Subjektivismus im literarischen und philosophischen Bereich, der sich aus christlichen (Augustinus) wie antik-heidnischen Traditionen speist. Kein Wort von der nun aufblühenden Gattung der Autobiographie (Petrarca, Boccaccio, Karl IV.) und der Briefkultur, die mit zum Markenzeichen der Renaissance-Humanisten wurde. Künstler wie Peter Parler liebten das (anfangs oft noch kryptische) Selbstportrait. Die Behauptung, «die viel beklagte Auflösung der öffentlichen Ordnung» sei «zumindest auf oberster politischer Ebene» nicht belegbar, mag für Florenz zutreffen (S. 87), für Städte wie Venedig sicher nicht. So berichtet Lorenzo de Monacis zwei Generationen später «Niemand in der Stadt sorgte mehr für Gerechtigkeit. Die üblichen Ratsversammlungen und sonstigen Veranstaltungen der Kommune mussten abgesagt werden». Er konnte sich auf Ratsprotokolle wie jenes vom 12. Juni 1348 berufen, wonach das notwendige Quorum an Mitgliedern des Grossen Rates nicht mehr erreicht wurde, weshalb «weder das Verhalten der Leute, die mit ihren Galeeren zu uns kamen» untersucht noch «die Angelegenheiten des Landes» erledigt werden konnten.1 Ob die Opferzahl innerhalb der «kreativen Elite» wirklich nur gering war, darf bezweifelt werden (was ist mit Ambrogio Lorenzetti, Bernardo Daddi oder Maso di Banco?). Noch mehr erstaunt die kriminalisierende Attributisierung der Zeit der frühen Medici als «cosa nostra» (S. 178).

Die «Neubefragung der Quellen» (S. 14) wirft somit viele Fragen auf. «Wäre es allein nach der Gerechtigkeit gegangen, so hätten die Menschen noch viel Schlimmeres verdient», schreibt Matteo Villani – nach Reinhardt fällt diese Bemerkung «völlig aus dem Rahmen europäischer Pestberichte» (S. 63). Was ist dann aber mit Petrarcas fast gleichlautendem Diktum gegenüber seinem Bruder Gerardo «Wir hätten freilich noch Schlimmeres verdient»? In seinem berühmtem Gedicht Ad se ipsum heisst es: «War dies der Zorn Gottes? Unsere Taten hätten es verdient, wie ich glaube». Reinhardts tendenziell negative Darstellung des Klerus (etwa S. 46 f.) beruht auf einer ziemlich selektiven Wahrnehmung. Glauben wir dem Zeitgenossen Simon de Couvin, waren die Weltpriester zum Beispiel in Avignon überaus mutig und infizierten sich oft gerade dann, wenn «sie den Kranken die Gnadengaben reichten». Gegenbeispiele gab es natürlich ebenso, wie sich auch unter Notaren und Ärzten schwarze Schafe tummelten (vgl. S. 47).

Es war, und hier ist Reinhardt (wie vielen Autoren vor ihm) zuzustimmen, eben nicht so, «dass sich alles änderte», wie das heute im Hinblick auf die «Zeit nach Corona» in Talkshows gerne prophezeit wird. Die grosse Pest kreierte Gewinner und Verlierer, dazu beachtliche Zivilisationsbrüche. Allerdings ist dies längst bekannt und erforscht. Reinhardts Buch wirft viele Fragen auf. Wer sich nie mit der Pest beschäftigt hat, mag hier inspiriert werden. Als Standardlektüre zur Pest von 1348 taugt es angesichts der vielen Fehler nicht.

Anmerkungen
1 Klaus Bergdolt (Hg.), Die Pest 1348 in Italien. 50 zeitgenössische Quellen, Heidelberg 1989, S. 127.

Zitierweise:
Bergdolt, Klaus: Rezension zu: Reinhardt, Volker: Die Macht der Seuche. Wie die grosse Pest die Welt veränderte 1347–1353, München 2021. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 72(3), 2022, S. 451-452. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00114>.

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